Lütteken Die Zauberflöte

Laurenz Lütteken: Die Zauberflöte
Mozart und der Abschied von der Aufklärung
C.H. Beck Verlag, 272 Seiten, ISBN 978 3 406 81502 7


Ein neuer Deutungsansatz des so populären wie missverstandenen Werks


Bis heute ist "Die Zauberflöte" Mozarts populärstes Werk, es ist zudem die meist aufgeführte, aber auch am meisten missverstandene Oper. Die Literatur über das Werk ist so unüberschaubar groß wie das Rätseln über dessen Intention. Um nur die neusten relevanten Publikationen zu erwähnen: 2002 hat Helmut Perl sein Buch "Der Fall Zauberflöte" geschrieben. Eine intelligente wie brisante Studie über das Missverständnis das so oft unterschätzte oder verharmloste (ja verblödelte) Werk.


Ob Maschinenkomödie, Zauberoper, Mysterienspiel oder „Machwerk“, wie Alfons Rosenberg die Oper nannte: Helmut Perl hatte berechtigte Zweifel an den herkömmlichen Interpretationen des Werks. Er dechiffrierte es vor dem Hintergrund der Französischen Revolution als gesellschaftspolitische Allegorie, als aufklärerische Parabel, als Werk eines "Illuminaten". Die Illuminaten waren eine Spielart des Freimaurertums. Mozart war nachweislich Mitglied einer Wiener Illuminatenloge: „Die Oper ist meiner Meinung nach eine Darstellung dieser Illuminatenideologie als Produkt einer radikalen Spätaufklärung, die sehr starke kirchenkritische Züge hatte.“ (Helmut Perl)


Jan Assmann erwähnt Perls Buch in seinem "Zauberflöten"-Buch von 2015 nicht. Aber er hat es offensichtlich genau gelesen, denn er stuft ebenfalls die "Zauberflöte" als "Freimaureroper" ein und nennt sie eine "Opera duplex": außen „Volkstheater, Maschinenoper, Zaubermärchen vom Schikanederschen Typ, innen Mysterium" im Sinne der Freimaurerlehren.


Nun hat der renommierte Musikwissenschaftler und Mozartforscher Laurenz Lütteken ein weiteres zu den Zahlreichen „Zauberflötenbüchern“ hinzugefügt. „Es geht in diesem Buch ... nicht darum, neue lineare Erklärungsmuster oder Rätsellösungen hinzuzufügen, überhaupt geht es nicht um eine geschlossene, Vielleicht sogar apodiktische Interpretation.“ Vielmehr versucht Lütteken, an seine frühere Veröffentlichung „Mozart. Leben und Musik im Zeitalter der Aufklärung“ (2017) anschließend, die „Zauberflöte“ aus dem 18. Jahrhundert, „dem Jahrhundert der Aufklärung“ zu erklären.


Schon Ulrich Konrad hat aus Anlass von Mozarts 250. Geburtstag ein bemerkenswertes Buch (2005) über Leben, Musik und Werkbestand herausgebracht. Es ist vielleicht das bis dahin genaueste, am wenigsten spekulative, das informativste unter den Mozartbüchern, denn es versucht gar nicht erst, die „vielen Lücken unserer Kenntnis von Lebenslauf und Biographie“ durch den „gefügigen Kitt erzählerisch-spekulativer Phantasie zu schmieren“. Konrad stützt sich ganz auf die Musik und auf die Quellen. Er zieht, mehr noch als in seinem Mozartbeitrag in der Enzyklopädie „Die Musik in Geschichte und Gegenwart“ eine beeindruckende Summe der heutigen Mozartforschung.


Laurenz Lütteken schließt sich Konrads Forderung nach Sachlichkeit und strikter Beachtung der Quellenlage an. „Viele lieb gewordene Deutungen sind über Jahrzehnte zu festen Klischees der Mozart-Rezeption geworden und erst in den letzten Jahrzehnten immer grundlegender erschüttert worden.“ Er begreift die Zauberföte „als ein Panorama zentraler, vielfach erörterter Themen des 18. Jahrhunderts, die im Grunde stets um das Verhältnis zur Wirklichkeit kreisen. Diese ordnen sich jedoch nicht im Sinne einer klar gestuften Hierarchie“, sie prallen vielmehr aufeinander, „ohne dass es zu einer Homogenisierung kommen soll oder kommen kann. Diese Vielfalt ist deswegen not- wendig verbunden mit der Frage, warum ausgerechnet eine solche Konstellation des Disparaten zum Gegenstand einer Oper werden konnte und sollte — und welche Rolle dabei der Musik zukommt, der Musik im Allgemeinen und natürlich und vor allem der Musik Mozarts. Mozart war von Beginn an ein Verfechter der wirkungsästhetischen Überwältigung durch Musik, und zumindest an dieser Prämisse scheint er bis zur Zauberflöte festgehalten zu haben, allerdings in einer ebenso eigenwilligen wie besonderen Form. Eine leitende Grundüberzeugung dieses Buches besteht folglich darin, dass die Zauberflöte nicht etwa ein Rätsel ist, das einer wie auch immer gearteten Lösung zuzuführen ist, sondern dass das, was an ihr rätselhaft und verwirrend erscheint, einer detaillierten Dechiffrierung bedarf - vor dem Hintergrund des 18. Jahrhunderts und anhand zahlreicher, mitunter entlegener, immer aber aussagekräftiger Quellen.“


Lütteken schließt sich nicht den „zum Teil erregten theoretischen Debatten“ um das Werk an. Es geht ihm vielmehr um den Versuch einer Bestandsaufnahme aus dem Kontext des 18. Jahrhunderts heraus. Es sollen zentrale Themenfelder Schritt für Schritt freigelegt und dann auf ihre Bedeutung hin befragt werden, die Lebensumständen Mozarts, die Entstehungsumstände der Oper und ihre Dramaturgie.
„Wenn also in diesem Buch mit Mozarts letztem Jahr, mit den damaligen Theaterverhältnissen und mit der Gattung der Zauberflöte begonnen wird, dann auch aus dem Versuch heraus, eine Art ‚Gegenerzählung‘ durchzuspielen. Diese handelt von Mozarts Wiener Erfolgsgeschichte, vom herausfordernden (und kostspieligen) Modell des Freihaustheaters, von der neuen, nie dagewesenen Idee einer ‚großen Oper‘ und davon, dass alle Indizien darauf schließen lassen, Mozart sei auch bei diesem Werk bedingungslos intentional verfahren, habe also keineswegs seine Deutungshoheit auch nur ansatzweise aus der Hand gegeben. Wenn man solche Voraussetzungen konsequent weiterverfolgt, dann ist man von der Versuchung befreit, vermeintliche oder offenkundige Widersprüche ‚auflösen‘ zu wollen. Vielmehr lassen sich alle bedeutungshaltigen Teile der Oper vor einem musikalischen, ästhetischen und literarischen Hintergrund belastbar erschließen, aus jenen mitunter disparaten Kontexten heraus, die das 18. Jahrhundert bereithielt.“


Ein überzeugender Neuansatz, sich diesem Werk zu nähern. Lütteken resümiert: “Sollte es also gelingen, die Oper als eine Art Resümee ihres Zeitalters, mit der Zuspitzung in einer grundlegenden Krise, zu begreifen ..., dann kann die Auseinandersetzung mit ihr nochmals einen anderen Akzent erhalten. Denn die strikte Historisierung, die hier angestrebt wird, dürfte zugleich Charakterzüge offenbaren, die sich auch über 200 Jahre nach der Entstehung der Zauber?öte als herausfordernd erweisen.“


Eine faszinierende Veröffentlichung, die beredt Antwort gibt auf die schon auf seiner ersten Seite formulierte Frage: „Noch ein Buch zur Zauberflöte? Wozu?“ Gründliche Anmerkungen, Literaturverzeichnis und Personenregister vervollständigen dieses lesenswerte Buch.


Rezension auch in "Der Opernfreund"